Rechtsstand: 01.01.2021

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Artikel 106

Die Gemeinden, die Kirchenbezirke, deren Verbände und andere kirchliche Rechtsträger unterliegen unabhängig von ihrer Rechtsform der kirchlichen Aufsicht durch die Landeskirche. Die kirchliche Aufsicht wird als Rechtsaufsicht und, nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen, als Fachaufsicht ausgeübt.
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Literatur
Feurer, Heiko (2010): Amtshaftung und Staatskirchenrecht (Schriften zum Staatskirchenrecht, Bd. 53). Frankfurt a.M.
Mitzel, Marc Ulrich (2007): Die Amtshaftung im Rahmen der Kommunalaufsicht gegenüber Gemeinden (Studien zum Verwaltungsrecht, Bd. 23). Hamburg.
Munsonius, Hendrik / Traulsen, Christian (2016): Aufsicht und Visitation. In: Anke, Hans Ulrich / de Wall, Heinrich / Heinig, Michael (Hrsg.): Handbuch des evangelischen Kirchenrechts. Tübingen, § 30.
Pree, Helmuth (2001): Aufsicht über Einrichtungen der Caritas aus der Sicht des kanonischen Rechts. KuR, S. 161 (= 390, S. 1 ff.).
Waibel, Gerhard (2009): Gemeindeverfassungsrecht Baden-Württemberg. 5. überarbeitete Aufl. Stuttgart.
Winter, Jörg (1988): Kirchenautonomie und Privatautonomie im Bereich der Diakonie. In: Ders. (Hrsg.): Diakonie in Bindung und Freiheit. Dankesgruß an Dr. Helmut Seifert (Schriftenreihe der Diakonie – Recht, Bd. 2). Stuttgart, S. 47 (49).
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A. Allgemeine Aufsicht durch die Landeskirche

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Der Artikel legt in Satz 1 eine allgemeine Aufsichtsfunktion der Landeskirche über die kirchlichen Rechtsträger fest. Sie besteht gegenüber den Gemeinden, den Kirchenbezirken und deren Verbänden sowie anderen kirchlichen Rechtsträgern »unabhängig von ihrer Rechtsform«, also auch gegenüber denen, die privatrechtlich organisiert sind. Das gilt grundsätzlich auch für die dem Diakonischen Werk angeschlossenen rechtlich selbstständigen diakonischen Einrichtungen und solchen, die sich aufgrund ihrer Satzung oder durch kirchliche Vereinbarungen der kirchlichen Aufsicht unterworfen haben.1# Die Möglichkeit, Maßnahmen der Aufsicht zu realisieren, kann im Einzelfall aber an der privatrechtlichen Organisationsform des kirchlichen Rechtsträgers scheitern, da ein unmittelbares Durchgriffsrecht der Landeskirche gegenüber selbstständigen Rechtsträgern außerhalb ihrer eigenen öffentlich-rechtlichen Organisationsform nicht anzunehmen ist.2# Insofern bleibt für den Fall, dass der private Rechtsträger nicht willens ist, eine Maßnahme der Aufsicht zu akzeptieren, in letzter Konsequenz nur die Aberkennung der Eigenschaft eines kirchlichen Rechtsträgers, z. B. durch Ausschluss aus dem Diakonischen Werk. Diese Einschränkung gilt aber nicht, soweit sich Kirchengemeinden oder Kirchenbezirke zur Wahrnehmung bestimmter Zwecke allein oder in Gemeinschaft mit anderen einer privatrechtlichen Organisationsform bedienen. Unstrittig dürfte das für den Fall sein, dass der private Rechtsträger – z. B. eine GmbH – nur aus Kirchengemeinden oder Kirchenbezirken als Gesellschaftern besteht, da es sich dabei kirchenrechtlich um einen Verband handelt. Anders ist die Rechtslage zu beurteilen, soweit sich Kirchengemeinden und Kirchenbezirke zusammen mit Privatpersonen an einem privaten Unternehmen beteiligen.3# Hier kommt zur Realisierung etwa notwendiger Maßnahmen der Rechtsaufsicht u. U. die Verweigerung oder die Rücknahme einer für die Beteiligung erforderlichen aufsichtsrechtlichen Genehmigung in Betracht.
2
Nicht erfasst werden in Artikel 106 die auf Personen bezogene Dienstaufsicht und die Aufsicht über bestimmte kirchliche Arbeitsfelder, wie z. B. den Religionsunterricht.4# Auch die Visitation ist nicht Gegenstand dieses Artikels, obwohl es sich dabei um eine spezielle Form der Kirchenleitung handelt, die auch Elemente der Rechts- und Fachaufsicht enthält. Sie ist aber nicht auf die Kontrolle rechtlich-organisatorischer und wirtschaftlicher Sachverhalte beschränkt.5#
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B. Rechts- und Fachaufsicht

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In Satz 2 wird unterschieden zwischen der Rechtsaufsicht, die nach Satz 1 immer besteht, da sie unmittelbar durch die Grundordnung angeordnet wird, und der Fachaufsicht, die nur »nach Maßgabe der gesetzlichen Bestimmungen« ausgeübt wird. Diese bedarf daher jeweils einer eigenen gesetzlichen Grundlage, in der Inhalt, Form und Ausmaß geregelt sind. Die Rechtsaufsicht beschränkt sich auf die Kontrolle der Rechtmäßigkeit von Beschlüssen und Maßnahmen. Sie dient der Überprüfung, ob die Rechtsträger die gesetzlichen und übernommenen Aufgaben erfüllen und das kirchliche Verwaltungshandeln in gesetzmäßiger Weise ausgeübt wird.6# Sie erstreckt sich nicht auf die Frage der Zweckmäßigkeit oder eine sonstige fachliche Beurteilung, die Gegenstand der Fachaufsicht sind. Die Fachaufsicht schließt im Unterschied zur Rechtsaufsicht eine Beurteilung der Zweckmäßigkeit einer Maßnahme ein.7# Dazu gehört auch die Überprüfung der Wirtschaftlichkeit.8#
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Die frühere weitere Ausdifferenzierung in Finanz-, Vermögens-, Bau- und Stiftungsaufsicht ist durch das Gesetz zur Änderung der Grundordnung vom 20. April 20139# entfallen, weil diese Formen sowohl Elemente der Rechts- als auch der Fachaufsicht enthalten können.10# Hintergrund der Änderung ist die Verabschiedung des Kirchlichen Gesetzes über die Rechts- und Fachaufsicht in der Evangelischen Landeskirche in Baden vom 27. Oktober 2011 (AufsG)11#, durch die das Aufsichtsrecht über die kirchlichen Einrichtungen auf eine neue gesetzliche Grundlage gestellt worden ist.
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C. Maßnahmen der Aufsicht

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Welche Befugnisse im Einzelnen mit der Aufsicht verbunden sind, ist in der Grundordnung nicht geregelt. Im kirchlichen Gesetz über die Rechts- und Fachaufsicht sind vorgesehen: Informationsrecht12#, Beratung und Empfehlung13#, Beanstandung14#, Weisung15#, Ersatzvornahme16# und die Bestellung einer beauftragten Person17#.
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Für die Wahrnehmung der landeskirchlichen Aufsicht ist nach Art. 78 Abs. 2 Nr. 8 GO der Evangelische Oberkirchenrat zuständig. Er wird von Amts wegen tätig, d. h., es bedarf dafür keines Antrages. Es gibt auch keinen einklagbaren Anspruch darauf, dass er tätig wird. Insoweit gilt das Opportunitätsprinzip, d. h., es liegt im pflichtgemäßen Ermessen des Evangelischen Oberkirchenrats, ob und welche Maßnahme der Aufsicht er für angezeigt hält (»Entschließungsermessen«).18# Als Grundsatz kann aber gelten, dass jeweils das Instrument der Aufsicht zu wählen ist, das am wenigsten in die originäre Zuständigkeit eingreift, wenn der Aufsichtszweck damit erreicht werden kann (»mildestes Mittel«).19#
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D. Spezielle Formen der Aufsicht

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I. Finanz- und Vermögensaufsicht

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Für die Finanz- und Vermögensaufsicht enthält die Grundordnung in Artikel 103 GO eine eigene Regelung.20# Die Einzelheiten dazu sind im KVHG21# geregelt.
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II. Bauaufsicht

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Nach § 2a Nr. 7 KVHG unterliegen bestimmte Baumaßnahmen als Teil der Vermögensaufsicht der Genehmigungspflicht durch den Evangelischen Oberkirchenrat. Dazu gehören vor allem: Neu-, Um- und Erweiterungsbauten, Änderungen an kirchlichen Gebäuden, der Abbruch, die Instandsetzung und Modernisierung kirchlicher Gebäude, die Restaurierung von Ausstattungsgegenständen sowie die Feststellung der kirchlichen Belange nach Maßgabe des staatlichen Baurechts. Weitere genehmigungspflichtige Vorhaben finden sich in § 7 des Kirchenbaugesetzes.22#
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III. Stiftungsaufsicht

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Spezielle Regelungen zur Stiftungsaufsicht finden sich in den §§ 9 bis 12 des kirchlichen Stiftungsgesetzes.23#
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IV. Dienstaufsicht

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Nicht erwähnt wird in Artikel 106 die auf einzelne Personen bezogene Dienstaufsicht. Eine allgemeine Dienstaufsicht der Landeskirche über alle in der Kirche beruflich tätigen Mitarbeitenden besteht daher nicht. Diese wird vielmehr durch den jeweiligen Anstellungsträger, wie z. B. die Kirchengemeinde oder den Kirchenbezirk, wahrgenommen. Genehmigungsvorbehalte im Bereich des kirchlichen Arbeitsrechts24# betreffen nicht die Dienstaufsicht, sondern fallen unter die Rechts- oder Fachaufsicht.
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E. Rechtsschutz

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Verfügungen, die der Evangelische Oberkirchenrat im Zuge der Aufsicht erlässt, können Verwaltungsakte sein, die nach Artikel 112 GO dem Beschwerdeverfahren unterliegen und vor dem kirchlichen Verwaltungsgericht durch eine Anfechtungsklage oder im Falle der Versagung einer Genehmigung mit der Verpflichtungsklage angegriffen werden können.25#
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F. Haftung

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Für den kommunalen Bereich hat der Bundesgerichtshof im Dezember 2002 entschieden, dass eine Gemeinde gegenüber der Aufsichtsbehörde aus Gründen der Amts- und Staatshaftung Schadensersatzansprüche geltend machen kann.26# Im konkreten Fall ging es im Zusammenhang mit der Errichtung einer Sporthalle um die von der Gemeinde selbst angestrebte Genehmigung eines Rechtsgeschäfts, das vom Rechnungshof nachträglich als unwirtschaftlich eingestuft wurde. Wegen der Verletzung seiner Schutzpflicht gegenüber der Gemeinde wurde der beklagte Landkreis zum Schadensersatz verurteilt. Das Beispiel zeigt zunächst, dass es bei Maßnahmen der Aufsicht auch darum geht, eine Gemeinde »vor sich selbst zu schützen«. Die Annahme einer Haftung der Aufsichtsbehörde für Vermögensschäden ohne Anrechnung eines Mitverschuldens dürfte aber zu weit gehen.27# Im Übrigen ist davon auszugehen, dass diese Rechtsprechung auf den kirchlichen Bereich nicht ohne Weiteres zu übertragen ist, da die Grundsätze des Staatshaftungsrechts nach § 839 BGB i.V.m. Art. 34 GG nicht anwendbar sind28# und es an einer die Haftung begründenden Norm im Kirchenrecht fehlt.29# Dennoch besteht für die aufsichtsführenden Stellen auch im kirchlichen Bereich in dieser Hinsicht ein nicht abschätzbares Risiko.

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1 ↑ § 1 Abs. 2 AufsG.
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2 ↑ So bestimmt § 4 Abs. 5 Satzung des Diakonischen Werkes der Evangelischen Landeskirche in Baden e.V. vom 1. August 2016, GVBl. S. 175 (RS Baden Nr. 330.111) ausdrücklich: »Die rechtliche und finanzielle Selbständigkeit der Mitglieder wird durch die Zugehörigkeit zum Diakonischen Werk nicht berührt«; vergl. dazu auch: J. Winter (1988); zur Aufsicht der römisch-katholischen Kirche über die Einrichtungen der Caritas vergl.: H. Pree (2001): S. 161 ff.
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3 ↑ Siehe dazu: § 2a Nr. 15 KVHG.
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4 ↑ Vergl.: Vorlage des Landskirchenrates ebd.
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5 ↑ Zur Unterscheidung siehe: H. Munsonius / C. Traulsen (2016): § 30 Rdnr. 4.; zur Visitation siehe auch die Kommentierung bei Art. 73 Rdnr. 24 ff.
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6 ↑ § 3 AufsG.
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7 ↑ Zur Definition der Fachaufsicht siehe oben: Art. 46 Rdnr. 5 (Fußnote 13).
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8 ↑ § 4 AufsG.
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9 ↑ GVBl. S. 109.
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10 ↑ Vergl. dazu die Vorlage des Landeskirchenrates vom 22. September 2011: Entwurf kirchliches Gesetz zur Regelung der Rechts- und Fachaufsicht in der Evangelischen Landeskirche in Baden, Verhandlungen der Landessynode der Evangelischen Landeskirche in Baden, ordentliche Tagung vom 23. bis 27. Oktober 2011, Anlage 9, S. 201.
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11 ↑ GVBl. 2012 S. 5 (RS Baden Nr. 500.200).
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12 ↑ § 6 AufsG.
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13 ↑ § 7 AufsG.
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14 ↑ § 8 AufsG.
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15 ↑ § 9 AufsG.
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16 ↑ § 10 AufsG.
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17 ↑ § 11 AufsG.
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18 ↑ Vergl. dazu für den kommunalen Bereich: G. Waibel (2009): Rdnr. 448.
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19 ↑ Siehe: H. Munsonius / C. Traulsen (2016): § 30 Rdnr. 39 und Rdnr. 50.
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20 ↑ Siehe die Kommentierung dort.
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21 ↑ Kirchliches Gesetz über die Vermögensverwaltung und die Haushaltswirtschaft in der Evangelischen Landeskirche in Baden (KVHG) vom 15. April 2011, GVBl. 113, zuletzt geändert am 25. Oktober 2017, GVBl. 2018 S. 66 (RS Baden Nr. 500.100).
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22 ↑ Baugesetz der Evangelischen Landeskirche in Baden (Kirchenbaugesetz) vom 15. April 2000, GVBl. S. 120, zuletzt geändert am 24. April 2015, GVBl. S. 94 (RS Baden Nr. 510.100).
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23 ↑ Kirchliches Gesetz über die kirchlichen Stiftungen im Bereich der Evangelischen Landeskirche in Baden (Kirchliches Stiftungsgesetz – KStiftG –) vom 24. Oktober 2002, GVBl. 2003 S. 4, geändert am 20. April 2013; GVBl. S. 127 (RS Baden Nr. 506.200).
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24 ↑ Siehe § 2a Nr. 2 und 3 KVHG.
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25 ↑ Für den kommunalen Bereich siehe: G. Waibel (2009): Rdnr. 449.
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26 ↑ BGHZ 153, S. 198 ff.
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27 ↑ Vergl. dazu: M. U. Mitzel (2007).
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28 ↑ Siehe dazu die grundlegende Arbeit von H. Feurer (2010).
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29 ↑ Für den Bereich der römisch-katholischen Kirche, siehe: H. Pree (2001).